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Zunehmender Güterverkehr drängt Personenverkehr ins Abseits
InnoTrans Report: Herr Péloquin, das Auto ist das Verkehrsmittel der Wahl, wenn es in Kanada um das Reisen geht. Welche Rolle kann, welche Rolle sollte die Bahn im Gesamtmobilitätskonzept Kanadas in Zukunft spielen?
Mario Péloquin: Die Menschen erkennen das enorme Potenzial der Bahnreise. Sie ist nachhaltig, verbindet die Bevölkerung und nützt sowohl unserer Wirtschaft als auch unserem Planeten. VIA Rail wurde in den 1970er-Jahren als staatliches Unternehmen gegründet. Heute ist VIA Rail ein innovativer und effizienter Experte für die Personenbeförderung. Seit mehr als 45 Jahren erschließen wir Kanada von Küste zu Küste. Ja, sogar 3 Küsten, denn wir fahren auch bei extremen Wetterbedingungen bis zur Nordküste Kanadas in der Hudson Bay. Wir bedienen mehr als 400 Gemeinden und haben in diesem Jahr rund 5 Millionen Personen befördert. Mit über 3.400 Beschäftigten sind wir dort überall ein Wirtschaftsmotor. Seit VIA nach den pandemiebedingten Unterbrechungen den Betrieb fast vollständig wieder aufgenommen hat, kommen unsere Kund:innen in Scharen zurück. Für das nächste Jahr sind wir auf dem besten Weg, die Rekordzahl an Fahrgästen von 2019 zu übertreffen.
Welche Infrastrukturinvestitionen werden dafür getätigt?
Mario Péloquin: Die EU hat mehr als 87 Milliarden Euro für die Verbesserung und den Ausbau des Schienenverkehrs vorgesehen. In den Vereinigten Staaten sieht das Infrastrukturgesetz 66 Milliarden US-Dollar für den Schienenverkehr vor. Und es wird eine ganz eigene kanadische Geschichte geschrieben.
Im November dieses Jahres führte VIA Rail sein neues Reservierungssystem ein, das den Fahrgästen einen einfacheren, praktischeren und leichter zugänglichen Zugriff ermöglicht. Das neue Reservierungssystem wurde mit Blick auf unsere Kund:innen entwickelt und ist ein entscheidendes Element der Modernisierung von VIA Rail. Es ist auf kontinuierliche Weiterentwicklung ausgelegt und bildet die Grundlage für einen zukünftig noch besseren Kundenkomfort. Seit 2022 haben wir auch hochmoderne Züge für den Einsatz im mittelkanadischen Raum eingeführt. Unsere neue Flotte verändert das Angebot im Reisezugverkehr im Korridor Québec City-Windsor, der Québec und Ontario verbindet, und überzeugt noch mehr Menschen davon, dass die Bahn die beste Art zu reisen ist. Wir sind besonders stolz darauf, dass wir damit die am leichtesten zugänglichen Züge der Welt anbieten können.
Die modernen, effizienten Motoren produzieren weit weniger Emissionen. Die Sitze sind bequemer und das WLAN ist beträchtlich verbessert. VIA Rail ist der Meinung, dass alle Kanadier:innen das Gleiche verdienen: Unser Ziel ist es, mehr Gemeinden miteinander zu verbinden und mehr Menschen auf eine nachhaltigere und leichter zugängliche Weise zu befördern. Für VIA Rail muss dies mit der Erneuerung von Kanadas Fern- und Regionalzügen beginnen.
Die von der nationalen Eisenbahngesellschaft betriebenen Züge fahren in fast alle Provinzen Kanadas, aber meist nicht auf eigenen Gleisen. Welche zusätzlichen Herausforderungen ergeben sich daraus für VIA Rail?
Mario Péloquin: Angesichts des wachsenden Interesses am Schienenpersonenverkehr stehen wir bei der Modernisierung unseres Angebots vor einer zentralen Herausforderung. Da VIA Rail nur zu drei Prozent eigene Gleise verfügt, müssen unsere Züge oft hinter Güter- und Pendlerzügen warten, was leider zu chronischen Verspätungen führt. Ein Beispiel: Auf der Strecke Montreal-Ottawa, wo VIA Rail die Gleise selber vollständig kontrolliert, sind unsere Züge zu über 90 Prozent pünktlich, während wir auf dem restlichen Streckennetz, wo wir Züge auf anderen Gastgebergleisen fahren lassen, nur 60 Prozent erreichen. Das ist für die Fahrgäste und für VIA Rail sehr frustrierend.
Der drastische Anstieg des Güterverkehrs ist zwar für die Wirtschaft des Landes von großem Vorteil, drängt aber den Personenverkehr buchstäblich ins Abseits, da der Anstieg des Verkehrsaufkommens leichter zu bewältigen ist als die Mischung von Zügen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten.
Wie lassen sich die steigenden Anforderungen an den modernen Schienenverkehr, Stichwort Mobilität 4.0 - unter diesen Bedingungen umsetzen?
Mario Péloquin: Das ist ein Konzept im Verkehrsbereich, das ich für sehr wichtig halte. Integrierte Mobilität muss problemloses Umsteigen von einem Verkehrsmittel in ein anderes erlauben. Ob mit dem Zug, dem Flugzeug, dem Auto, dem Bus oder dem Schiff, die Verbindungen müssen nahtlos sein.
Im Rahmen unserer ständigen Bemühungen zur Verbesserung unserer Dienstleistungen für die Kanadier:innen werden wir Ihnen während meiner Amtszeit als CEO mehr und mehr über integrierte Mobilität erzählen. Es macht einfach Sinn, unsere Bemühungen zu koordinieren, denn wir wollen alle das Gleiche - dass mehr Menschen das Auto stehen lassen und auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen. Es ist unsere Aufgabe, ihnen das zu erleichtern.
Welche Erwartungen haben Bahnreisende und wie können Sie das Bahnfahren attraktiver machen?
Mario Péloquin: Die Welt erkennt, dass die Menschheit vor einer existenziellen Klimakrise steht und wir dringend effiziente, kohlenstoffarme Verkehrsmittel brauchen. Wir alle streben danach, unsere Welt besser zu vernetzen, leichter zugänglich und gerechter für alle zu machen. Angesichts dieser Herausforderungen bietet der Schienenpersonenverkehr einen Weg in die Zukunft.
In Kanada bieten die Toronto-Vancouver-Linie über Edmonton, die Winnipeg-Churchill-Linie und die Ostlinie Montreal-Halifax spektakuläre, weltweit einzigartige Erlebnisse. VIA ist auch eine wichtige Verbindung für die indigene Bevölkerung im ganzen Land und insbesondere in diesen Gegenden. Die Züge stammen zum Teil aus den 1950er-Jahren, benötigen kostspielige Instandhaltungen und bieten nicht die Zugänglichkeit und den Komfort, den der Reisende heutzutage erwartet. Diese Wagen und Lokomotiven bleiben dank der einfallsreichen Instandhaltungsteams von VIA in Betrieb.
Die Fernverkehrs- und Regionalzüge müssen ausgemustert und ersetzt werden, und zwar bald. Es ist wichtig zu verstehen, dass die Beschaffung solcher Fahrzeuge etwa ein Jahrzehnt dauert. Wenn wir diesen Prozess nicht sofort in Angriff nehmen, riskieren wir, dass sich dies auf unser Angebot in ganz Kanada auswirkt. Das wäre eine verpasste Chance. Und es wäre ein schwerer Schlag für einige auf die Bahn angewiesene Gemeinden. Kurz gesagt, es besteht dringender Bedarf, und es ist jetzt an der Zeit, unsere Fern- und Regionalzüge zu ersetzen.
VIA Rail hat einen Plan, und wir haben der Regierung in einer Vision gezeigt, was wir mit neuen Zügen erreichen können. Wir nennen es "Renewing the National Dream", eine Weiterentwicklung des ursprünglichen Traums, die gesamte Nation in den späten 1800er-Jahren zu vereinen.
Die Erneuerung der Flotte in ganz Kanada bietet weit mehr als nur die Erhaltung des Angebots. Wir glauben, dass sie ein Katalysator für ein neues goldenes Zeitalter des Eisenbahnverkehrs in diesem Land sein wird, die das Wirtschaftswachstum im ganzen Land ankurbelt. Eine neue Flotte wird die Gleichberechtigung fördern, indem sie die meisten Regionen Kanadas bedient und bis zu 72 Prozent der Bevölkerung erreicht, während sie gleichzeitig wesentlich besser zugänglich ist.
Die im ganzen Land verkehrenden Züge werden ein neues Symbol des Nationalstolzes sein. Neue Züge für ganz Kanada werden es VIA Rail ermöglichen, auf seiner Vision aufzubauen und Gemeinden zu verbinden, ein breit angelegtes Wirtschaftswachstum in den von uns bedienten Regionen zu fördern und die Versöhnung mit Kanadas indigenen Völkern voranzubringen.
Im Jahr 2022 erhielt VIA Rail einen Umweltpreis* für den Bahnhof Winnipeg; Sie streben auch eine LEED-Zertifizierung für Ihre Betriebswerke in Montreal und Toronto an. Im Jahr 2022 trat VIA Rail als erstes kanadisches Landverkehrsunternehmen dem Global Compact der Vereinten Nationen bei. Wo sehen Sie VIA Rail im Jahr 2030 oder 2050?
Mario Péloquin: Die Kanadier:innen brauchen ein Verkehrsnetz, das ihre Gemeinwesen nahtlos, effizient und nachhaltig verbindet. Deshalb hat VIA Rail den Personenverkehr durch sein Modernisierungsprogramm und seine Pläne für Nachhaltigkeit und Barrierefreiheit umgestaltet.
Das Unternehmen hat seine Richtlinien, Praktiken und Nachhaltigkeitsprioritäten überprüft und einen robusten und zukunftsorientierten Nachhaltigkeitsplan entwickelt, der es VIA Rail ermöglicht, seinen ökologischen Fußabdruck zu verringern, seine Rolle als verantwortungsbewusster Verkehrsanbieter zu stärken und dauerhafte Werte für heutige und kommende Generationen zu schaffen.
Der Plan konzentriert sich unter anderem auf Klimaschutz, verantwortungsbewusste Beschaffung und Abfallmanagement. Er ist eine weitere Möglichkeit für VIA Rail, Teil der Lösung für eine nachhaltigere Zukunft für alle Kanadier:innen zu sein.
Dieser Nachhaltigkeitsplan trägt zu den verschiedenen Strategien und Zielen Kanadas bei und wird die Leistungen in den Bereichen Umwelt, Soziales und Unternehmensführung in allen Geschäftsbereichen von VIA Rail verankern, damit das Unternehmen zukunftsfähig und widerstandsfähiger wird.
Wir sind bestrebt, verschiedene Ziele zu erreichen, darunter:
Reduzierung der Treibhausgasemissionen um 30 Prozent oder mehr bis 2030 (im Vergleich zu 2005);
Angebot von abfallfreien Zügen im Korridor Québec City-Windsor;
Schulung aller Mitarbeiter im Bereich Nachhaltigkeit;
Ausrichtung von 80 Prozent der Gemeinschaftsinvestitionen auf die Prioritäten dieses Nachhaltigkeitsplans;
Erreichen einer 80-prozentigen Umsetzung der Politik der verantwortungsvollen Beschaffung auch bei Lieferanten.
Dieser Plan wurde auch entwickelt, um zu den Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen beizutragen, auf die VIA Rail den größten Einfluss haben kann. Entschlossen, auf diesem Weg weiter voranzuschreiten und sein Engagement für verantwortungsvolle Geschäftspraktiken zu verstärken, ist VIA Rail, wie Sie bereits erwähnt haben, kürzlich als erstes Landtransportunternehmen in Kanada dem Global Compact der Vereinten Nationen beigetreten. Es wird die universellen Prinzipien der Nachhaltigkeit des Paktes einhalten und zu umfassenderen gesellschaftlichen Zielen beitragen.