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Wer den niedrigsten Anschaffungspreis will, schlägt Innovationen aus

Ab dem Jahr 2021 war sie Mitglied der Geschäftsleitung im Deutschen Verkehrsforum e.V. (DVF), zuvor war sie Leiterin für europäische Verkehrspolitik, Security und Schienenverkehr im Verband. Im Interview mit dem InnoTrans Report schildert sie, was sich – gerade in deutschen Köpfen – ändern muss, um Pariser Klimaziele zu erreichen.

InnoTrans Report:

Frau Stark, welche Akzente wollen Sie in Ihrer Arbeit als Hauptgeschäftsfüh- rerin des VDB setzen?

Sarah Stark: Die Bahnindustrie in Deutschland bietet Lösungen. Bei der Umsetzung der verkehrspolitischen Ziele sind wir verlässlicher Partner für Politik und Betreiber. Für die Verdopplung der Fahrgastzahlen bis 2030 und die Erreichung eines Marktanteils von 25 Prozent im Güterverkehr brauchen wir eine höhere Umsetzungsgeschwindigkeit. Ich bin überzeugt, dass es Politik, Betreibern und Industrie gemeinsam gelingen wird, beides zu erreichen – wenn wir den Fokus stärker auf Lösungen statt auf Probleme legen. So entsteht Rückenwind. Innovationen und moderne Verwaltungsstrukturen beschleunigen unsere Prozesse und den Bahnbetrieb. Das Schnellläuferprogramm hat gezeigt, dass wir Bauprojekte in der Hand eines Generalunternehmers bis zu vier Jahre schneller abschließen. Mit digitalen Zugsicherungssystemen sorgen wir für mehr Pünktlichkeit und Kapazität im bestehenden Netz. Beides müssen wir ganz selbstverständlich anwenden. Mein Fokus liegt auf einer höheren Umsetzungsgeschwindigkeit für ein modernes Schienensystem. Was zu tun ist, hat im Dezember 2022 die Beschleunigungskommission Schiene in ihrem Abschlussbericht zusammengefasst. Die finanziellen Weichen hat der Koalitionsausschuss mit seinem „Modernisierungspaket für Klimaschutz und Planungsbeschleunigung“ Ende März 2023 gestellt. Ein Modernes- Schiene-Gesetz muss diese Beschlüsse umsetzen.

Der VDB hat der neuen Bundesregierung seinerzeit für die ersten 100 Tage zehn prioritäre Maßnahmen für die nächste Mobilitätsrevolution vorgelegt. Das ist nun schon eine Weile her. Was hat sich inzwischen getan?

Sarah Stark: Zum Antritt der neuen Bundesregierung hatte die Bahnindus- trie 2021 Maßnahmen eingefordert, die vor allem auf eine Beschleunigung der Digitalisierung und Elektrifizierung des Bahnverkehrs abzielten. Dazu zählten steigende Investitionen und entsprechende Finanzierungsmodelle. Dazu zählten aber auch Planungsbeschleunigung und die Modernisierung der Vergabepraxis in Deutschland. Bliebe es beim derzeitigen Investitionstempo der Digitalisierung im Schienenverkehr, wäre die Schiene erst 2077 deutschlandweit digitalisiert. Etwa 42 Jahre zu spät. Mit 45 Milliarden Euro mehr Investitionsmitteln für die Schiene bis 2027, wie sie der Koalitionsausschuss beschlossen hat, können wir das Bild drehen. Besonders der Paradigmenwechsel der Bundesregierung bei der Fahrzeugausrüstung ermöglicht einen national abgestimmten Migrationspfad ohne kostspielige jahrelange Doppelausrüstung der Infrastruktur. Für die extremen Preissteigerungen aufgrund des Krieges in der Ukraine sind praxisnahe Lösungen zu finden. Wie so viele Branchen, belasten unterbrochene Lieferketten, eine hohe Inflation sowie gestiegene Lohn- und Energiekosten auch die Bahnindustrie. Für unsere Industrie, die mit langlaufenden Liefer- und Rahmenverträgen zu festen Preisen arbeitet, müssen praxisnahe Lösungen gefunden werden. Eine Preisgleitung und faire Mehrkostenteilung in Neu-, aber eben auch Bestandverträgen sind dringend anzuwenden. Die Bundesregierung hat die notwendigen Spielräume für Baustoffe eröffnet. Gleiches sollte für die Leit- und Sicherungstechnik gelten und auch Anwendung finden.

Was braucht es nach Ihrer Meinung, um die Pariser Klimaziele zu erreichen?

Sarah Stark: Für die digitale Transformation im Schienenverkehr müssen Unternehmen betriebliche Kapazitäten über mehrere Jahre aufbauen – insbesondere beim Personal. Dafür braucht es aber eine verlässliche Perspektive. Die Dynamisierung der Mittel ist mit dem Modernisierungspaket der Bundesregierung beschlossen. Jetzt geht es darum, schlankere Finanzmechanismen einzuführen, damit Investitionen schneller im Markt ankommen. Nur so können die Investitionsmittel ihren Zweck erfüllen und den klimafreundlichen Verkehrsträger Schiene stärken. Bisher bleiben Investitionen viel zu oft und deutlich zu lange im Regeldschungel hängen. Und auch die Art, wie in Deutschland beschafft wird, muss sich ändern. Mobilitätsangebote sollten stärker an den Bedürfnissen der Fahrgäste ausgerichtet werden. Die Bahnindustrie liefert Innovationen, von ansprechendem Innendesign über digitale Informationssysteme bis hin zu klimafreundlichen alternativen Antrieben. Aber ob diese Innovationen in den Betrieb kommen, entscheiden öffentliche Ausschreibungen. Und die belohnen in Deutschland überwiegend den niedrigsten Anschaffungspreis. Das ist weder für das Klima noch für die Kunden und Fahrgäste gut.

Welche Schienentechnologie beschafft wird, muss künftig viel stärker entlang sozialer und nachhaltiger Kriterien entschieden werden. Und die gibt es im europäischen wie deutschen Vergaberecht mit den „Most Economically Advantageous Tenders“ bereits. Das MEAT-Prinzip bricht den Begriff der Wirtschaftlichkeit auf und ermöglicht es, beschaffenden Stellen Kriterien wie das beste Preis-Leistungs-Verhältnis, niedrige Lebenszykluskosten, modernes Design, hohe Nachhaltigkeit oder Energieeffizienz in der Vergabe stärker zu gewichten. Deutschland muss hin zum besten Angebot. Wer den niedrigsten Anschaffungspreis will, schlägt Innovationen aus. In Ausschreibungen von Bund und Ländern sind MEAT- Kriterien stärker einzusetzen und Help-Desks für ihre rechtssichere Anwendung zu schaffen. Wir dürfen ambitionierte Ziele nicht aufgrund aktueller Rahmenbedingungen abmoderieren, sondern müssen den Rahmen so anpassen, dass er die Erreichung der Klimaziele ermöglicht. Die Bahnindustrie steht bereit.

Sarah Stark, VDB